In den urbanen Zentren der Welt wächst das Gemüse nicht mehr nur auf Feldern – sondern zunehmend auch in Hochhäusern. Vertical Farming, also der vertikale Anbau von Pflanzen in mehrstöckigen, oft geschlossenen Systemen, verspricht eine Revolution in der Landwirtschaft.
Besonders angesichts von Klimakrise, Urbanisierung, Flächenknappheit und Versorgungsunsicherheiten erscheint das Konzept wie eine Lösung der Zukunft. Doch hinter dem grünen Versprechen verbirgt sich eine Realität, die durch Energiepreise, Skalierungsprobleme und wirtschaftliche Risiken herausfordert wird.
Historische Entwicklung und aktueller Stand
Die Idee des Vertical Farming wurde erstmals vom amerikanischen Mikrobiologen Dickson Despommier Anfang der 2000er populär gemacht. In einem Artikel für das „Scientific American“ 2009 beschrieb er Visionen urbaner Hochhäuser, in denen Lebensmittel unter kontrollierten Bedingungen erzeugt werden. Was damals als Utopie galt, ist heute Realität – zumindest in Teilen.
Unternehmen wie Infarm in Berlin galten lange als Vorreiter. Mit automatisierten Anbauschränken, die in Supermärkten oder Restaurants platziert wurden, konnte frisches Gemüse direkt vor Ort produziert werden. Doch die Euphorie erhielt 2022 einen Dämpfer: Infarm zog sich aus mehreren europäischen Ländern zurück und musste 2023 Insolvenz anmelden. Grund: explodierende Energiekosten und ein zu schnelles Wachstum ohne profitables Geschäftsmodell.
Weltweit wird der Markt für Vertical Farming 2024 auf rund 7 Milliarden US-Dollar geschätzt, mit einer erwarteten Steigerung auf über 20 Milliarden bis 2030. Dennoch bleibt der wirtschaftliche Erfolg bislang auf wenige Projekte beschränkt.
Chancen und Vorteile
Trotz Rückschlägen ist das Potenzial von Vertical Farming enorm. Laut einer Studie der University of Arizona verbrauchen vertikale Systeme bis zu 95 % weniger Wasser als konventionelle Landwirtschaft. Pestizide entfallen komplett, da das Anbausystem in geschlossenen Räumen vor Schädlingen geschützt ist.
Ein weiterer Vorteil liegt in der Nähe zum Verbraucher: „Wir bringen die Landwirtschaft dorthin, wo sie gebraucht wird“, erklärt der Gründer des Berliner Start-ups farmie. „Unsere Plug-&-Play-Systeme ermöglichen frische Produktion direkt in Wohn- oder Arbeitsquartieren.“ Das reduziert nicht nur Transportwege und CO₂-Emissionen, sondern auch Verluste durch Lagerung und Verderb.
Die ganzjährige Ernte unter kontrollierten Bedingungen minimiert zudem Risiken durch extreme Wetterereignisse. Während Dürreperioden und Starkregen klassische Landwirte zunehmend in Bedrängnis bringen, bleiben vertikale Farmen davon unberührt.
Herausforderungen
Hoher Energieverbrauch
Die Achillesferse des Vertical Farming ist der Energieverbrauch – insbesondere für künstliche Beleuchtung und Klimasteuerung. LED-Lampen simulieren das Sonnenlicht, während Luftfeuchtigkeit, Temperatur und CO₂-Gehalt reguliert werden müssen.
Im Gespräch mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) erklärt Prof. Franz-Peter Heckel von der Universität Hohenheim: „Vertical Farming funktioniert nur wirtschaftlich, wenn Strom entweder sehr günstig oder selbst produziert ist. Der Preisschock von 2022 hat viele Projekte ausgebremst.“
So musste auch das Start-up AeroFarms aus den USA – einst ein Vorzeigeunternehmen der Branche – 2023 Insolvenz anmelden. Die Betriebskosten überstiegen die Einnahmen trotz technologischer Innovationen.
Wirtschaftlichkeit und Skalierung
Ein weiteres Problem: Der Weg zur Rentabilität ist steinig. Großanlagen erfordern hohe Investitionen in Technik, Personal und Infrastruktur. Selbst wenn Systeme technisch funktionieren, bleibt die Skalierbarkeit ein Problem – viele Anlagen schaffen es nicht über den Pilotstatus hinaus.
„Wir sehen einen klaren Trend: Kleinere, modulare Systeme, die gezielt in Supermärkte, Krankenhäuser oder Kantinen integriert werden, funktionieren besser als große Produktionshallen“, sagt Julia Mahler, Expertin für urbane Landwirtschaft beim Fraunhofer-Institut. „Die Flexibilität ist ein entscheidender Erfolgsfaktor.“
Technologische Innovationen und Lösungsansätze
Damit Vertical Farming langfristig tragfähig wird, braucht es technologische Weiterentwicklungen. Besonders im Bereich Lichttechnik hat sich viel getan: Neueste LED-Generationen mit einstellbarer Spektralverteilung („tunable white“) verbrauchen deutlich weniger Strom und liefern dennoch optimale Wachstumsbedingungen.
Ein weiterer Ansatz ist die Integration erneuerbarer Energien. Einige Anlagen setzen auf Photovoltaik-Dächer, die tagsüber Energie für den Betrieb liefern. Auch sogenannte Agrivoltaik-Systeme – die Kombination aus Landwirtschaft und Solarstromproduktion – werden getestet.
Zukunftsweisend ist zudem der Einsatz von künstlicher Intelligenz: Sensoren messen kontinuierlich Temperatur, Licht, CO₂ und Feuchtigkeit, während Algorithmen in Echtzeit optimale Einstellungen vornehmen. So kann die Produktivität weiter gesteigert werden.
Beispielhaft ist das Projekt „GrowStack“ in Dänemark, wo automatisierte Robotik-Systeme die gesamte Pflege der Pflanzen übernehmen – von der Aussaat bis zur Ernte. „Ohne Menschenhand und mit deutlich reduziertem Energieeinsatz“, wie das Unternehmen betont.
Marktüberblick Deutschland
In Deutschland entwickelt sich der Markt dynamisch, wenn auch vorsichtig. Laut Grand View Research betrug das Marktvolumen für Vertical Farming hierzulande 2024 rund 628 Millionen US-Dollar. Bis 2030 wird eine Steigerung auf über zwei Milliarden US-Dollar erwartet.
Stark gefragt sind dabei vor allem kompakte Indoor-Systeme für den Einzelhandel oder die Gastronomie. Firmen wie agrilution aus München setzen auf „Plant Cubes“ – Kühlschrankgroße Anbaugeräte für zu Hause. Solche Systeme bedienen eine umweltbewusste, urbane Zielgruppe, die regionale Lebensmittel mit wenig Aufwand selbst anbauen möchte.
Gleichzeitig engagieren sich auch große Lebensmittelkonzerne im Bereich: EDEKA testete etwa in Kooperation mit Infarm Gemüseproduktion direkt im Supermarkt – ein Konzept, das trotz Infarms Krise als Modell erhalten bleiben könnte.
Ausblick und Empfehlungen
Vertical Farming steht am Scheideweg. Der technologische Fortschritt allein reicht nicht aus – gefragt sind smarte Geschäftsmodelle, politische Unterstützung und ein langer Atem bei Investoren.
„Wer heute in Vertical Farming investiert, muss Geduld mitbringen“, so der Agrarökonom Markus Will aus Leipzig. „Es geht nicht um schnelle Gewinne, sondern um eine neue Form der Landwirtschaft mit langfristiger Perspektive.“
Kleine, modulare Anlagen haben dabei bessere Chancen als Großprojekte: Sie lassen sich gezielter an Standorte mit günstiger Energieversorgung anbinden – etwa an Bioenergieanlagen, Stadtwerke oder PV-Farmen. Auch die Verknüpfung mit Wärme-Rückgewinnung aus Industrie oder Abwasseranlagen wird diskutiert.
Politisch braucht es mehr Förderprogramme zur Unterstützung von innovativen landwirtschaftlichen Konzepten. Länder wie die Niederlande oder Dänemark investieren gezielt in CEA-Technologien (Controlled Environment Agriculture), während Deutschland hier noch Nachholbedarf hat.
Frische Lebensmittel direkt in der Stadt
Vertical Farming ist kein Allheilmittel, aber eine hochinnovative Antwort auf viele Herausforderungen der heutigen Landwirtschaft. Der Weg zu einer rentablen, ökologisch sinnvollen Umsetzung ist noch weit – insbesondere angesichts hoher Energiepreise und technischer Komplexität.
Doch das Potenzial ist groß: Frische Lebensmittel direkt in der Stadt, ressourcenschonend und klimafreundlich produziert, sind ein greifbares Ziel. Voraussetzung dafür ist, dass technologische Innovationen mit wirtschaftlicher Weitsicht und politischem Rückhalt kombiniert werden.
In den Worten von Dickson Despommier: „Vertical Farming ist keine Vision für morgen – es ist die Transformation, die wir heute beginnen müssen.“
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