Wie essen die Menschen in Deutschland wirklich? Welche Rolle spielen Obst, Gemüse, Fleisch und pflanzliche Alternativen im Alltag?
Das Nationale Ernährungsmonitoring – kurz „nemo“ – soll Antworten auf diese Fragen geben. Es liefert eine umfassende Datengrundlage, auf deren Basis Politik, Forschung und Gesundheitswesen Entscheidungen treffen können. Die jüngst veröffentlichten Ergebnisse des ersten Befragungsmoduls aus dem Herbst 2024 werfen ein differenziertes Licht auf die Essgewohnheiten der Deutschen. Dabei zeigen sich spannende Einblicke – und deutliche Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit.
Hintergrund: Warum ein Nationales Ernährungsmonitoring?
Die Ernährung gilt als einer der wichtigsten Faktoren für die Gesundheit und das Wohlbefinden. Gleichzeitig hat sie gesellschaftliche, ökologische und ökonomische Dimensionen. Doch belastbare Daten darüber, wie die Bevölkerung tatsächlich isst, sind rar. Bereits in den 2000er-Jahren lief mit der „Nationalen Verzehrsstudie II“ eine umfassende Erhebung, die durch das Projekt NEMONIT fortgeführt wurde. Diese Studien hatten jedoch den Nachteil, dass sie zeitlich begrenzt waren und große Abstände zwischen den Erhebungswellen aufwiesen.
Mit dem neuen „nemo“ wurde ein kontinuierliches und modulares Monitoring etabliert. Es soll regelmäßige, repräsentative Befragungen ermöglichen und so auch kurzfristige Entwicklungen abbilden. Ernährungsforscherinnen und -forscher haben damit die Möglichkeit, aktuelle Trends zu analysieren, wie zum Beispiel den Rückgang oder das Wachstum von vegetarischen und veganen Ernährungsweisen oder die Frage, ob die Bevölkerung die Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) kennt und befolgt.
„Wir brauchen eine solide Datengrundlage, um Ernährungsstrategien sinnvoll weiterzuentwickeln. Nur so können wir gezielt ansetzen, wo es in der Praxis hakt“, betonte eine Sprecherin des Max Rubner-Instituts.
Methodik der aktuellen Befragung
Die erste große Befragungswelle fand zwischen September und November 2024 statt. Insgesamt nahmen über 3.000 Personen im Alter von 18 bis 80 Jahren teil. Um eine repräsentative Abbildung der Gesellschaft zu gewährleisten, wurde die Stichprobe nach Kriterien wie Alter, Geschlecht, Bildung und Bundesland gewichtet. Die Befragung erfolgte online, was eine schnelle und flexible Datenerhebung ermöglichte.
Diese methodische Ausrichtung bringt Vorteile: Ergebnisse stehen zeitnah zur Verfügung und können bei politischen Debatten und öffentlichen Diskussionen berücksichtigt werden. Gleichzeitig erfordert die Online-Befragung eine kritische Reflexion, da Bevölkerungsgruppen mit geringer Internetnutzung unter Umständen unterrepräsentiert sind.
Zentrale Ergebnisse: Gesundheit, Selbstbild und Realität
Gesundheitliche Selbsteinschätzung
Eine deutliche Mehrheit der Befragten schätzte den eigenen Gesundheitszustand als positiv ein. Rund zwei Drittel gaben an, sich „gut“ oder „sehr gut“ zu fühlen. Auch beim Thema Kochkompetenz äußerten sich mehr als die Hälfte der Teilnehmenden zuversichtlich. Viele Menschen sind also überzeugt, dass sie mit ihrer Ernährung und ihren Fähigkeiten in der Küche auf einem soliden Fundament stehen.
Doch das Bild verändert sich, wenn man die Angaben mit den tatsächlichen Ernährungsgewohnheiten vergleicht. Denn die Realität auf dem Teller sieht oft weniger gesund aus, als es das Selbstbild vermuten lässt.
Obst- und Gemüseverzehr
Ein zentrales Ergebnis des Monitorings: Nur etwa 35 Prozent der Befragten gaben an, täglich sowohl Obst als auch Gemüse zu essen. Weitere 60 Prozent konsumieren zwar regelmäßig eines der beiden, aber nicht beides. Die DGE empfiehlt jedoch mindestens fünf Portionen Obst und Gemüse am Tag – eine Empfehlung, die nur knapp ein Viertel der Befragten überhaupt korrekt benennen konnte.
„Es überrascht, wie groß die Lücke zwischen Wissen und Handeln ist. Viele Menschen wollen sich gesund ernähren, aber im Alltag schaffen sie es nicht“, erklärte eine Ernährungswissenschaftlerin.
Ein Beispiel verdeutlicht die Problematik: Wer morgens einen Apfel isst und mittags einen kleinen Salat, erfüllt damit noch lange nicht die empfohlene Menge. Oft scheitert die Umsetzung an Gewohnheiten, Zeitmangel oder schlicht an Bequemlichkeit.
Vegetarismus und Veganismus
Ein besonders aufmerksames Auge war auf die Frage gerichtet, wie viele Menschen in Deutschland tatsächlich auf Fleisch und tierische Produkte verzichten. Überraschend: Nur etwa 4 Prozent der Befragten gaben an, vegetarisch zu leben. Veganerinnen und Veganer machen sogar nur knapp 1 Prozent aus. Diese Zahlen liegen deutlich unter den Werten anderer Umfragen, die in den vergangenen Jahren publiziert wurden.
Warum gibt es diese Diskrepanz? Ein Grund liegt in der unterschiedlichen Fragestellung: Während manche Umfragen das Selbstverständnis abfragen („Ich sehe mich als Vegetarier“), ging es bei „nemo“ konkreter um den tatsächlichen Verzehr. Hier zeigte sich, dass viele, die sich selbst als vegetarisch oder vegan bezeichnen, gelegentlich doch zu tierischen Produkten greifen.
Interessant ist auch die Dauer der Ernährungsweise: Rund 80 Prozent der Mischköstlerinnen und Mischköstler gaben an, seit mindestens zehn Jahren so zu essen. Bei Vegetarierinnen und Veganern hingegen waren es nur etwa 20 Prozent, die ihre Ernährungsform bereits so lange praktizieren.
„Die Zahlen zeigen, dass vegetarische und vegane Ernährung oft noch experimentellen Charakter hat. Viele probieren es aus, bleiben aber nicht dauerhaft dabei“, kommentierte ein Ernährungsexperte.
Flexitarismus und Fleischkonsum
Ein weiteres wichtiges Ergebnis: Etwa ein Viertel der Befragten kann als Flexitarier bezeichnet werden, also Menschen, die bewusst ihren Fleischkonsum reduzieren und höchstens zweimal pro Woche Fleisch essen. Allerdings zeigt ein genauerer Blick, dass diese Selbsteinschätzung oft nicht mit dem tatsächlichen Verhalten übereinstimmt. Rund 75 Prozent gaben an, häufiger Fleisch zu essen als sie ursprünglich angaben. Auch hier zeigt sich also ein Unterschied zwischen Wunsch und Wirklichkeit.
Interpretation: Zwischen Wunschbild und Alltag
Die Ergebnisse des Ernährungsmonitorings werfen ein Schlaglicht auf die Diskrepanz zwischen dem, was Menschen von sich glauben, und dem, was sie tatsächlich tun. Viele sehen sich als gesundheitsbewusst und kompetent in Ernährungsfragen. Doch wenn es um konkrete Empfehlungen wie die „5 am Tag“-Regel oder um den dauerhaften Verzicht auf Fleisch geht, zeigt sich ein anderes Bild.
Die Daten legen nahe, dass es weniger an mangelndem Wissen liegt – die Empfehlungen der DGE sind grundsätzlich bekannt – sondern eher an der Umsetzung im Alltag. Stress, Preisunterschiede zwischen Fleisch und pflanzlichen Alternativen sowie Gewohnheiten spielen hier eine zentrale Rolle.
„Ich weiß, dass ich mehr Gemüse essen sollte, aber nach der Arbeit ist es einfacher, schnell eine Wurst zu braten“, gab eine Teilnehmerin offen zu.
Gesellschaftliche Bedeutung und politische Implikationen
Das Nationale Ernährungsmonitoring liefert nicht nur spannende Einblicke für die Wissenschaft, sondern hat auch praktische Relevanz für Politik und Gesellschaft. Die Daten können als Grundlage für nationale Ernährungsstrategien dienen, etwa in der Frage, wie man den Konsum von Obst und Gemüse stärker fördern oder wie man die Bevölkerung beim nachhaltigen Fleischverzicht unterstützt.
Ernährungspolitische Maßnahmen – von Bildungsprogrammen in Schulen über Informationskampagnen bis hin zu Preisanreizen – lassen sich besser planen, wenn man weiß, wo die Probleme liegen. Dass nur ein kleiner Teil der Bevölkerung die Ernährungsempfehlungen kennt und umsetzt, verdeutlicht die Notwendigkeit gezielter Aufklärung.
Ausblick: Wie geht es weiter?
Das „nemo“ ist nicht als einmaliges Projekt angelegt, sondern als dauerhafte Beobachtung. Künftig sollen weitere Module folgen, die auch Kinder und Jugendliche einbeziehen, sobald die Finanzierung gesichert ist. Damit kann eine noch umfassendere Sicht auf die Ernährungsrealität in Deutschland entstehen.
Für die Forschung bedeutet das: Trends können besser erkannt, Ursachen schneller analysiert und Maßnahmen effektiver angepasst werden. Für die Gesellschaft bedeutet es: mehr Transparenz darüber, wie nah oder fern man einer gesunden, nachhaltigen Ernährung tatsächlich ist.
Ernährungspolitische Entscheidungen
Das Nationale Ernährungsmonitoring zeigt: Deutschland ist weit entfernt von einer flächendeckend gesunden Ernährungsweise. Zwar sehen sich viele Menschen als gesundheitsbewusst, doch Obst- und Gemüsekonsum bleiben hinter den Empfehlungen zurück, vegetarische und vegane Ernährung ist seltener verbreitet als gedacht, und der Fleischkonsum liegt höher, als viele angeben.
Die Daten liefern eine wichtige Grundlage für künftige ernährungspolitische Entscheidungen. Denn nur, wenn die tatsächliche Realität bekannt ist, können wirksame Maßnahmen ergriffen werden. Das Ziel bleibt, Ernährung nicht nur als private Angelegenheit zu sehen, sondern als gesellschaftliche Aufgabe – für die Gesundheit der Menschen und die Zukunft des Planeten.
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